Lebensstil

Degrowth: Warum Wirtschaftswachstum nicht das Ziel sein kann

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Jahrelang war es das oberste Ziel der Politik, das Wachstum in Deutschland anzukurbeln. Das Wirtschaftssystem war danach ausgerichtet, möglichst viel Wohlstand durch Wachstum zu generieren. Und an Wachstum ist zunächst ja nichts Negatives dran, ganz im Gegenteil: Je stärker die Wirtschaft eines Landes ist, desto besser geht es den Bürgern. Oder?

In seinem Buch „Gut leben ohne Wachstum – eine Einladung zur Degrowth-Debatte“ greift Dr. Norbert Nicoll Denkansätze auf, die dieser These widersprechen. Als Wirtschafts- und Politikwissenschaftler, Professor für Nachhaltige Entwicklung an der Universität Duisburg-Essen und Gymnasiallehrer für Geschichte und Geographie ist es seine Aufgabe, nicht nur die Motive hinter dem Wirtschaftswachstum zu kennen, sondern auch die Zukunftsfähigkeit dieses scheinbar „unersättlichen“ Systems zu hinterfragen.

Der Minimalismus Blog hat dieses Buch netterweise vom Verlag zur Verfügung gestellt bekommen, um möglichst viele Leser dazu anzuregen, über dieses Thema nachzudenken. Im Folgenden haben wir die unserer Meinung nach stärksten Kernaussagen seines Werks zusammengefasst.

Das Problem mit der Wachstumsgesellschaft

Wachstum ist ein Märchen, das uns materiellen Wohlstand verspricht. Und im Hinblick auf die Nachkriegszeit war Wachstum vielleicht tatsächlich das, was sich heute viele Menschen darunter vorstellen: ein Hoffnungsträger. Ein Weg, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen und sich an der Steigerung des Wohlstands eines Landes zu beteiligen. Durch Arbeit, durch Konsum.

In einem offenen Gespräch über wirtschaftliches Wachstum kommt man aber um den Begriff der „Effizienz“ nicht umhin. Effizienz wird seit Jahrzehnten als Argument für Wachstum hingehalten. Neue Produkte bedeuten Innovation – und Innovation verkauft sich besser. Je mehr Menschen kaufen, desto schneller wächst unsere Wirtschaft. Zwangsläufig führen also neue oder neuartige Produkte zu einem schnelleren Wachstum und somit zu Wohlstand – so zumindest die Idee der Entscheidungsträger.

Und außerdem ist an innovativen Produktionsverfahren kaum etwas auszusetzen, weil sie mit der neuesten Technologie in Einklang stehen und somit nicht nur Zeit, sondern auch Energie und Rohstoffe sparen. Da uns durch die Digitalisierung und die Automatisierung sehr viel Arbeit abgenommen wird, verkürzen sich die Produktionsabläufe und es werden nicht mehr so viele Ressourcen gebraucht. Das kann ja nur bedeuten, dass Wachstum in jedem Fall gefördert werden muss – oder etwa nicht?

Nein. Die Realität ist leider eine andere. Seit Jahrzehnten steigt der Verbrauch von Rohstoffen und Energie. Daran ändern auch innovative Technologien nichts. Diese beiden Faktoren stehen nicht einmal im Zusammenhang miteinander, da die steigende Nachfrage nach Produkten die Hersteller vor große Herausforderungen stellt. Viel eher ist der Fall, dass der Ressourcenverbrauch stetig steigt, ohne auf die damit verbundenen Umwelteinwirkungen Rücksicht zu nehmen.

Deutlich relevanter ist die Frage nach der Konsistenz. In einer Kreislaufwirtschaft ist alles klar geregelt, denn alles folgt einem bestimmten Kreislauf. Wir wissen, dass wenn wir Pfandflaschen in den Supermarkt zurückbringen, sie weiter verarbeitet und befüllt werden, um uns wieder im Supermarktsortiment zum Kauf zur Verfügung zu stehen. Mittlerweile nutzen viele Hersteller dieses Prinzip, um ihre Produktion nachhaltiger zu gestalten – oder um durch „grünes“ Marketing eine umweltbewusste Zielgruppe zu erreichen. Würden alle Unternehmen auf Kreislaufstrategie umsteigen, wäre doch alles in bester Ordnung?!

Auch an dieser Stelle gibt es einiges an Ernüchterung für den aufmerksamen Leser. Denn das Argument der Konsistenz erweckt den Eindruck, dass Wachstum ewig funktionieren kann. Aber genau das tut es nicht. Und schon gar nicht mit den Rohstoffen, die nicht kompostierbar sind, jedoch täglich tonnenweise für Produktionen eingesetzt werden: Plastik.

Ein System, das auf der Ausbeutung von Menschen aufbaut, kann keine nachhaltige Entwicklung einschlagen. Wachstum bedeutet nämlich auch, dass wir unsere günstigen Klamotten Kinderarbeit in Bangladesch verdanken. Immer mehr, immer schneller, immer besser mag vielleicht im ersten Moment nach Fortschritt klingen, aber wenn eine ganze Parallelgesellschaft darunter leiden muss, ist diese Superlative schlichtweg nicht haltbar.

Auf dem Weg zur Postwachstumswirtschaft

Aus diesem Grund führt Dr. Nicoll eine dritte Strategie ein, die auch das Bedürfnis der Bürger berücksichtigt, sich aktiv gegen ein unhaltbares wirtschaftliches Wachstum zu wehren. Die Strategie der Suffizienz sieht nämlich vor, dass immer mehr Menschen umweltbewusster leben und der Natur weniger schaden möchten, so dass sie durch bewussten Konsum – und Zurückhaltung im Verbraucherverhalten – die Hersteller dazu animieren können, weniger Ressourcen zu verbrauchen.

Der erste Schritt in diese Richtung müsste dergestalt sein, dass Menschen wieder Wertschätzung und Bewunderung für die Umwelt empfinden, in der sie leben. Sie sind keine Gäste oder Konkurrenten der Natur, sondern regelrecht ein Teil dieser. Wer nicht erkennt, wie vollkommen und wunderbar die Natur funktioniert, in was für einer unglaublichen Balance sie „arbeitet“, der sieht auch keine Hemmschwelle darin, die Natur für wirtschaftliche Zwecke auszubeuten.

„Es bedarf keiner Bevölkerungsmehrheit, um Dinge ins Rollen zu bringen. Veränderungen kommen nur selten durch Mehrheiten zustande.“

Und die Ausbeuter sind nicht nur die Hersteller, die die Natur als unerschöpfliche Quelle ansehen. Es sind auch die Verbraucher, die einen günstigen Preis oder aus Bequemlichkeit bereit sind, die Welt zu zerstören, in der sie leben. Der erste Schritt wäre also, eine Postwachstumswirtschaft anzustreben, um ein Bewusstsein für die Grenzen der Natur zu schaffen. Denn ist die Natur einmal verloren, verschwindet die Lebensgrundlage der Menschen (und der Tiere und Pflanzen) gleich mit.

Verbraucherschutz: Mehr Ehrlichkeit auf dem Markt

Ein wichtiger Ansatz wäre zum Beispiel auch, die Hersteller zu einer offenen Kommunikation zu verpflichten. Wenn jeder Käufer weiß, was für einen Produktionsablauf er mit seinem Geld unterstützt, überlegt er sich vielleicht zweimal, ob ihm das Schnäppchen die Gewissensbisse wert ist. Ziel ist eine soziale „Kostenwahrheit“, die zum Beispiel durch die Angabe der Herstellungskosten erreicht werden kann.

Denkt man den Gedanken der Ehrlichkeit weiter, kommt man auch nicht um die Idee umhin, die sogenannte geplante Obsoleszenz von Produkten zu verbieten. Aber was genau versteht man unter diesem leicht sperrigen Begriff? Gemeint sind solche Produkte, die nach Ablauf einer bestimmten, vorher festgelegten Zeitspanne gewisse Defekte aufweisen, um den Käufer zum Kauf des Nachfolgerprodukts zu bewegen. Der Autor spricht hier von einer Kaufkraft in Höhe von 100 Milliarden Euro, die in Deutschland auf das Konto kaputter Produkte gehen.

Warum die Sharing Economy so wichtig ist

Eine erfreuliche Neuigkeit ist im Bereich Second Hand zu beobachten. Während immer weniger Menschen bereit sind, kaputte Produkte zu reparieren oder reparieren zu lassen, sondern sich stattdessen lieber etwas Neues kaufen, steigt der Second Hand-Markt langsam an. Erfreulich ist diese Entwicklung deshalb, weil Menschen durch den Kauf von „gebrauchter“ Ware die Wirtschaft durch das Fehlen ihrer Nachfrage entlasten. Wer lieber einen gebrauchten Fernseher kauft, wird weder auf dem Markt nach den neuesten Modellen suchen noch anfällig sein für ausgeklügelte Werbekampagnen und Last Minute-Angebote.

Auch das Teilen gewinnt immer mehr an Bedeutung (sog. Sharing Economy). Plattformen wie Vinted (bis 2020: Kleiderkreisel) ermöglichen das Kaufen oder Tauschen von Kleidung, Taschen und Home-Artikeln und erfreuen sich gerade bei jungen Menschen großer Beliebtheit. Aber auch die Plattform „Ebay Kleinanzeigen“ bietet auf regionaler Ebene viele Haushaltsgegenstände und Elektronik, die aussehen wie neu.

„Sharing ist mit drei Kriterien verbunden: Erstens werden weniger Ressourcen verbraucht, zweitens entstehen mehr menschliche Begegnungen. Und drittens erhalten diejenigen Zugang zu Waren, Arbeit oder Dienstleistungen, die diesen Zugang sonst nicht hätten.“

Durch die steigenden Zahlen in der Wirtschaft war der altbewährte soziale Gedanke des Teilens oder Leihens scheinbar verloren gegangen. Dieser Gedanke lebt jetzt in Form von öffentlichen Buchschränken inmitten der Stadt oder auch in Form von Nachbarschaftshilfe (wie bei der Corona-Pandemie gut zu beobachten) wieder auf.

Transition Towns: Dezentralisierung und Urban Gardening

Warum diese Form der „Politik von unten“ immer wichtiger werden wird, lässt sich auch mit einem Blick auf geradezu boomende Transition Towns erkennen. Kurzgefasst lässt sich dieser Begriff wie folgt erklären: Anstatt gewisse Probleme, die Bürger als störend empfinden, mühsam und zeitaufwendig „von oben“, also durch die Regierung lösen zu lassen, werden Bürger lokal und regional selbst aktiv. Diese Gemeinschaften widmen ihre Zeit wirtschaftlichen, aber auch sozialen und ökologischen Problemfeldern in ihrer eigenen Stadt.

Das kann beispielsweise dadurch geschehen, dass man sich für mehr „Grün“ in seiner Stadt einsetzt. So entsteht auch der Selbstversorger-Trend, der durch das Anpflanzen von Obst und Gemüse auf dem eigenen Balkon oder auf gezielt für diesen Zweck zur Verfügung gestellten Grünflächen zu einer gewissen Unabhängigkeit von Supermärkten führt. Immer mehr Menschen schmücken ihre Häuser und Wohnungen, teilweise sogar ihre Garagen und Stellplätze mit Gemüsekästen und selbstgezüchteten, essbaren Pflanzen, um von herkömmlichen Produktionsketten unabhängiger zu sein (sog. Urban Gardening). Diese Form der Dezentralität lässt sich auch auf die Stromversorgung beziehen, die immer öfter regional und nicht durch ein bundesweites Kraftwerksystem stattfindet.

Was ist mit unserem Zeitwohlstand?

Das wirtschaftliche Wachstum hat nicht nur unser Konsumverhalten, sondern auch unser Gefühl für Zeit verändert. Wenn wir behaupten, dass die fortschreitende Technologie zu mehr Wachstum führt und somit mehr Fortschritt in Sicht ist, warum verfügen dann Menschen immer noch über so wenig Zeit, die sie in ihrem Leben frei gestalten können?

Ist die Ressource Zeit nicht genau das, was das Leben erst ausmacht und jede Form von materiellem Wohlstand zweifelsfrei übertrifft? Bedeutet Wohlstand nicht auch, frei über seine Zeit verfügen zu können? Mit diesen Denkanstößen stellt sich tatsächlich die Frage, warum bei all den technischen Möglichkeiten immer noch ein sogenannter „9 to 5“-Job üblich ist.

„Wenn wir wirklich selbstbestimmt leben möchten, sollten wir die Kontrolle über unsere Zeit wiedererlangen. Wir sollten eine Lebens- und Produktionsweise aufbauen, die auf innerer Motivation satt auf innerer Leere basiert.“

Es ist also nicht nur der materielle Wohlstand, der durch Wachstum erreicht werden kann, sondern auch die zeitliche Freiheit, die jedem Bürger zustehen sollte. Dies gilt übrigens auch in den Bereichen Gemeinschaft, Solidarität, künstlerisches Schaffen und persönliche Autonomie. Anstatt Wachstum per sé abzulehnen, könnten wir uns in Zukunft sowohl als Entscheidungsträger als auch als Verbraucher darauf fokussieren, diese kostbaren Ressourcen zum Wachsen zu bringen.


Aus dem Buch: 

Gut leben ohne Wachstum – Eine Einladung zur Degrowth-Debatte von Dr. Norbert Nicoll

Das Buch kann ab sofort versandkostenfrei über buecher.de bestellt werden.

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